Bergsehnsüchtig

Draußen unterwegs

Montafon: Zum Wiegensee

Es gibt so viele schöne Plätze im Montafon, dass man gar nicht entscheiden kann, welcher der schönste sein könnte. Ganz vorne in der Rangliste ist aber der Wiegensee am Fuß der Versalspitze, auf einer Höhe von 1.925 m gelegen. Vollkommen zu Recht wurde er 2021 als ‘Schönster Platz Österreichs‘ ausgezeichnet. Ebenfalls schön ist seine Lage. Denn er ist nicht so einfach zu erreichen. Weder Bergbahn noch Straße führen in unmittelbarer Nähe vorbei. Der Wiegensee will also erwandert werden. Das kann aus verschiedenen Richtungen geschehen. Wir entscheiden uns für den Aufstieg, beginnend an der Talstation der Tafamuntbahn. Nicht wundern: diese Bahn kann nur den Zustieg zum Wiegensee abkürzen. Ein ganzes Stück muss auch von der Bergstation noch gewandert werden.

Wir orientieren uns links, gehen ein paar Meter Richtung Ortsmitte Paternen, um dann rechts abzubiegen. Ein paar Häuser werden passiert. Dann beginnt der eigentliche Aufstieg als der Weg links über eine Wiese in Richtung Wald abzweigt. Und gleich geht es kräftig bergan. Erneut merken wir, dass wir uns in einem Tal bewegen – jetzt sogar fast am Talschluss – und nach oben marschieren müssen, um etwas zu sehen. Der Weg wird schnell schmaler, zu einem Pfad, der auf weichem Waldboden in Serpentinen bergan führt. Querende Wurzeln müssen überquert und Stufen genommen werden. Hohe Nadelbäume spenden Schatten und kühlende Feuchte an diesem Spätsommermorgen.

Der Wald öffnet sich

Schnell kommen wir voran, denn viel gibt es nicht zu sehen, weil der dichte Wald Ausblicke verhindert. Nach zahlreichen Kurven und Serpentinen öffnet sich das Grün und eine weite Weidefläche tut sich auf. Kleinere Häuser werden ebenso sichtbar wie die Mittelstation der Tafamuntbahn am anderen Ende der Wiese, das wir schnell erreichen. Wahrscheinlich ist es in der Hochsaison von nun an voller, doch zum Zeitpunkt unseres Besuchs im Frühherbst bleibt es angenehm leer. Die wenigen Wanderer sind nicht störend.

Nachdem wir die Mittelstation und das benachbarte Alpstöbli Tafamunt passiert haben, kehren zwei bekannte Elemente der ersten Kilometer zurück: Wald und Aufstieg. Allerdings unterscheidet sich inzwischen der Weg. Zum einen ist er breiter und verläuft nicht in engen Serpentinen. Zum anderen geht es jetzt vor allem über größere und kleiner Steine bergan, die weichen Waldboden verdrängen. Doch auch dieses Stück macht Spaß, den kein Meter Weg gleicht dem anderen. Konzentration ist ein stückweit gefordert.

Es dauert nicht lange und der Wiegensee beziehungsweise das Wiegenseegebiet ist erreicht. Warum Gebiet? Der Wiegensee ist Teil eines Hochmoores, das für den Besuch durchschritten werden muss. Und deshalb plätschert und es gurgelt ab einer gewissen Höhe. Größere und kleinere Tümpel, manchmal nur Pfützen säumen den sich verjüngenden Pfad, unterspülen ihn stellenweise gar. Mit dieser sich feuchter gestaltenden Umgebung wandelt sich auch die Flora. Unzählige Pilze schießen aus dem Boden. Bunt gefärbtes Gras wächst auf Freiflächen. Moosbeerensträucher bedecken die Hänge. Nadelbäume werden weniger und kleiner. Andere Hecken und Sträucher lösen sie ab. Eine ganz besondere (Moor-)Landschaft.

Silvretta-Hochalpenstraße liegt gegenüber

Die geringere Wuchshöhe der Fauna gibt nun auch wieder Ausblicke frei. Und zwar auf ein ganz imposantes Gebiet: Denn wir blicken inzwischen auf Breit- und Ballunspitze, Vallül, Bielerspitze und Schattenkopf. Die Silvretta-Hochalpenstraße schlängelt sich rechts von uns in Richtung Vermunt-Stausee und Silvretta-Stausee. Motorengeräusche drängen gelegentlich herüber und stören so ein bisschen die Ruhe auf ‘unserer’ Seite. Dennoch genießen wir die Idylle, die wir durchschreiten. Und langsam gewinnen wir auf einem zunächst technisch wenig anspruchsvollen Weg sogar wieder an Höhe.

Der feine Schotter des Weges wird abgelöst von kleinem Blockwerk. Der Weg wird wieder zum Pfad. Mannshohes Strauchwerk löst das bunte Gras erneut ab. Zwischendurch bieten sich auch Fernblicke in Richtung Paznaun-Tal und zum Stausee Kops. Ein letzter kurzer Anstieg muss noch gemeistert werden und ein paar Bänke zum Rasten tauchen auf. Wenige Meter später blicken wir auf das Ziel des mehrstündigen Aufstiegs: den Wiegensee.

Wir nehmen auf einer der Bänke Platz und schnell wird klar, warum dieser kleine See mit ausgezeichnet wurde. An seiner Größe liegt es nicht – an seiner schmalsten Stelle misst er nur etwa zehn Meter von Ufer zu Ufer – sondern wahrscheinlich an der Idylle und Ruhe, die man hier findet. Dazu gehört das klare Wasser, das an diesem windstillen Tag die umliegende Bergwelt detailgetreu spiegelt. Nur eine Ente durchschneidet auf der Suche nach Nahrung das makellose Bild. Im Hintergrund tauchen zeitgleich Madrisella und Versettla auf. Links verschluckt der Erdwall, den wir vorhin überquert haben, Motoren- und Zivilisationslärm. Zusammen mit dem schmalen Holzsteg, der ein Stück in den See hineinragt, entsteht ein idyllisches Bild, das uns nicht mehr loslassen will. Nicht einmal die Gespräche auf den anderen Bänken stören.

Ich weiß nicht, wie lange wir am Ufer des Wiegensees saßen. Doch irgendwann haben wir uns wieder auf den Rückweg gemacht und sind bis zur Mittelstation der Tafamuntbahn gewandert. Wir hätten auch in einem weiten Bogen über die Alpe Verbella oder direkt über den Bergrücken nach Paternen absteigen können. Das wäre uns nach den intensiven Eindrücken zu anspruchsvoll gewesen. Deshalb haben wir uns ganz entspannt von der Gondel ins Tal bringen lassen – noch ganz selig vom Erlebten.

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